Jurij Roerich ist einer der größten Orientalisten, Linguisten und Enzyklopädisten des 20. Jahrhunderts, sein Name ist auf der ganzen Welt bekannt. Er beherrschte mehr als 30 europäische und asiatische Sprachen und Dialekte, war ein brillanter Kenner des Ostens und seiner Religion und Philosophie. Zudem repräsentierte er diejenige syntaktische Richtung der Orientalistik, auf die Russland mit Recht stolz sein kann.
Jurij Roerich wird am 16. August 1902 im Dorf Okulovka in der Provinz Novgorod geboren. Seine Kindheit und Jugend verbringt er in Sankt Peterburg. Schon in früher Jugend ist der Junge von Geschichte und Militaristik fasziniert. Elena Roerich schreibt in ihren Briefen: „Der Ältere zeigte Liebe zu Geschichte und Zinnsoldaten. Er hatte Tausende davon. Seine Leidenschaft für das Militärwesen bleibt erhalten. Strategie ist sein Steckenpferd. Offensichtlich ist dieses Talent angeboren, und er ist sehr stolz auf einen seiner Vorfahren – Feldmarschall Michail Kutusov, Kriegsheld von 1812“.
Bereits mit 15 Jahren beschäftigt sich Jurij Roerich zusammen mit dem berühmten Wissenschaftler und Ägyptologen B.A. Turajew mit der Ägyptologie, mit A.D. Rudnew widmet er sich der mongolischen Sprache und Geschichte.
Die Vielfalt der Interessen und die Vielseitigkeit der Talente des jungen Roerich zeigen sich in seinen Gemälden und grafischen Arbeiten, die er zu Schulzeiten anfertigt und die die künstlerische Begabung von Jurij verdeutlichen.
Nach Abschluss des Karl-May-Gymnasiums, tritt er der indo-iranischen Fakultät der Schule für orientalische Sprachen an der Universität von London bei. Die außergewöhnliche Sprachbegabung war so ausgeprägt, dass er als bester Schüler in Sanskrit dem für Indien zuständigen Staatssekretär vorgestellt wird, als dieser der Universität einen Besuch abstattet.
Im September 1920 reist Jurij gemeinsam mit seinen Eltern in die USA. Dort schreibt er sich an der Harvard-Universität am Institut für Indische Philologie ein, dort beginnen auch seine Studien der Pali- und chinesischen Sprache. Seine Zielstrebigkeit ist verblüffend: mit 18 ist er schon ausgebildeter Orientalist, der seine eigene Betätigung und Ausrichtung in der Wissenschaft hat.
Nach Beendigung der Harvard-Universität mit Bachelor- und Masterabschluss setzt Jurij Roerich seine Ausbildung in Frankreich, und zwar an der Schule für orientalische Sprachen an der Universität von Paris fort. Innerhalb eines Jahres arbeitet er in den Zentralasiatischen und Mongolisch-Tibetanischen Fakultäten der Universität, gleichzeitig studiert er an der Militärfakultät und der Fakultät für Recht und Ökonomie. Im Jahr 1923 macht Jurij Roerich seinen Abschluss und erhält den akademischen Grad eines Masters für Indische Philologie.
Bereits im Alter von 21 beginnt Jurij Roerich ein eigenes Forschungsprojekt. Von diesem Moment an soll seine gesamte weitere wissenschaftliche Tätigkeit mit hohen humanistischen Bestrebungen erfüllt sein.
Im Jahr 1923 zieht die Familie Roerich nach Indien. Hier beginnt die erste Etappe der Zentralasiatischen Expedition von Nikolaj Roerich. Nach einer zeitlich kurzen, aber sehr erfüllten und ausgedehnten Reise durch Indien (Dezember 1923), führen Jurij und seine Familie im Jahre 1924 weitere kleinere Expeditionen durch Sikkim – ein Land mit schneebedecktem Hochgebirge und uralten Klöstern – und durch Bhutan im östlichen Himalaya. Das Ergebnis dieser Reisen ist eine brillante Monographie „Tibetische Malerei“ (Paris, 1925). Dieses wissenschaftliche Werk, das Jurij Roerich im Alter von 23 Jahren verfasst hat, ist einzigartig, da vergleichbare Werke weder damals noch heute geschrieben worden sind. Jahrzehnte später, im Jahre 2002, wird die moderne Neuauflage dieser Studie des Internationalen Roerich-Zentrums vom Dalai Lama hoch gelobt.
Von 1925 bis 1928 ist Jurij Roerich Teilnehmer der Hauptetappe der Zentralasiatischen Expedition. Jurij ist, trotz seines jungen Alters, zuständig für die Sicherheit der Expedition. Hierbei kommen ihm seine militärischen Kenntnisse sehr zu Nutzen. Nicht nur einmal retten sein taktisches Geschick und sein persönlicher Mut die Karawane. Darüber hinaus fungiert er als Übersetzer, da er perfekt die mongolische und tibetische Sprache sowie auch mehrere zentralasiatische Dialekte beherrscht. So ist es möglich, mit der lokalen Bevölkerung zu kommunizieren und unschätzbare wissenschaftliche Wert zu schaffen. Es ist gewiss keine Übertreibung zu sagen, dass ohne Jurij viele Aufgaben der Zentralasiatischen Expedition nicht lösbar gewesen wären.
Die Ergebnisse dieser einzigartigen Expedition finden sich in Jurij Roerichs Monographie „Auf den Spuren von Mittelasien“ (London, 1931) wieder, die den junge Forscher in die Reihen der wissenschaftlichen Pioniere Asiens hebt.
Die Entdeckung der Menhire, Steinkreise und Steingräber während der zentralasiatischen Expedition in Tibet beschreibt Jurij in seinem Werk „Der wilde Stil der Nomaden des nördlichen Tibet“ (Prag, 1930), das eine Sensation in der Welt der Wissenschaft wird. L.N. Gumilew schreibt: „Die Arbeit Jurij Roerichs über den „wilden Stil“ in Tibet ist seit langem eine bibliographische Rarität und wird von allen Historikern der skythischen und sarmatischen Kunst als epochale wissenschaftliche Arbeit zitiert.“
Am Ende der Expedition wird das enorme wissenschaftliche Material, das auf der Wegstrecke zusammengetragen wurde, an das Institut für Himalaya-Studien „Urusvati“ übergeben, das im Juli 1928 gegründet wurde. So schreibt L.W. Schaposchnikowa, größte zeitgenössische Erforscherin des Lebens und Wirkens der Roerich-Familie, in ihrem Werk „Leuchten des Morgensterns“, dieses Material „war das erste wertvolle Samenkorn derjenigen neuen Wissenschaft, über die die Lebendige Ethik schrieb und Lehrer sprachen, die hoch oben auf der Leiter der kosmischen Evolution standen.“ Mehr als 10 Jahre ist Jurij Roerich unabsetzbarer Direktor des Instituts.
In Festlegung der Ziele des Instituts schreibt er: „Verständnis der wichtigsten Wege in der menschlichen Entwicklung ist ein Schritt zum Verständnis des Selbst. Mit Blick auf die Vergangenheit entdecken wir für uns in die Gegenwart. <…> In den Bergen versteckt ist eine vergessene Zivilisation, die uralte Weisheit und Kultur bewahrt. Genau hier kann die in eine Sackgasse geratene Wissenschaft ihre Erneuerung finden. Uralte Weisheit ist der Schlüssel, mit dem Archäologen und Naturforscher die Geheimnisse der Kultur des Ostens öffnen. <…> Es kommt einmal wieder eine Zeit, wenn Wissen um den Osten in unser Leben tritt und sich die Wissenschaft zum Untertan macht.“
In den Jahren 1934 – 1935 unternimmt Jurij Roerich zusammen mit Nikolaj Roerich eine Expedition in die Mandschurei und die Innere Mongolei, organisiert auf Veranlassung des Landwirtschaftsministeriums der USA und mit dem Ziel, um Samen dürreresistenter Pflanzen zu finden, durch die Bodenerosion und Ausbreitung von Schädlingen verhindert werden können. Neben der rein wissenschaftlichen Aufgaben hat die Expedition aber auch einen sozio-kulturellen Zweck – der Aufbau landwirtschaftlicher Genossenschaften auf Basis breiter Zusammenarbeit der Völker auf dem Territorium der Mandschurei und, später, der Inneren Mongolei.
Als ein hervorragender Gelehrter und Lexikograph wird Jurij Roerich zum Mitglied der Royal Asiatic Society in London, der Asiatic Society of Bengal, der Pariser Geographischen Gesellschaft, der Amerikanischen Archäologischen und Ethnographischen Gesellschaft sowie weiteren Einrichtungen gewählt.
Jurij Roerich verbringt mehr als 35 Jahre seines Lebens im Ausland, längere Zeit lebt er in Indien. Doch trotz alledem bleibt er stets ein wahrer Patriot seiner Heimat, niemals nimmt er eine ausländische Staatsbürgerschaft an. Als Nazi-Deutschland die Sowjetunion überfiel schickt Jurij sofort ein Telegramm an die sowjetische Botschaft in London mit dem Antrag auf Zulassung als Freiwilliger in der Roten Armee, aber er erhält eine Absage.
Im August 1957 kehrt Jurij Roerich aus Indien nach Moskau zurück. Dies ist der persönlichen Intervention von Nikita Chruschtschow zu verdanken, der mit Jurij Roerich während eines offiziellen Besuchs in Indien zusammengetroffen war. Erst danach erhält Jurij Roerich die sowjetische Staatsbürgerschaft und die Erlaubnis, in die Heimat zurückzukehren.
In Moskau beginnt Jurij Roerich seine Arbeit am Institut für Orientalistik der Akademie der Wissenschaften der UdSSR als Leiter der „Sektion für Philosophie und religiöse Geschichte Indiens.“ In den nur knapp drei Jahren in der Sowjetunion (August 1957 – Mai 1960) vollbringt er eine unglaublich große Menge an Arbeit, für die man normalerweise ein ganzes Leben braucht. Jurij Roerich belebt die Tradition der akademischen Orientalistik in Russland, gründet eine nationale Schule für Tibetologie und beginnt erstmals in der Sowjetunion Sanskrit zu lehren, legt den Grundstein für eine neue Wissenschaft – die Nomadistik (Studium der Nomadenstämme). Während seiner nur kurzen Tätigkeit in Moskau bereitet Jurij Roerich ein mehrbändiges Tibetisch-Russisch-Englisch-Wörterbuch mit Parallelen zum Sanskrit und eine große Anzahl von Artikeln und wissenschaftlichen Arbeiten zur Veröffentlichung vor. Auf Initiative von Jurij werden die Arbeiten an der Übersetzung und Veröffentlichung der antiken philosophischen und literarischen Denkmäler des Ostens wieder aufgenommen. Er erneuert die berühmte Serie „Biblioteca Buddhica“, die im Jahre 1897 vom prominenten russischen Orientalisten S.F. Oldenburg begründet wurde und die sich der buddhistischen Philosophie, Religion und Kunst widmet, indem er als wissenschaftlicher Redakteur des Buches „Tibetische Historische Literatur“ von A.I. Wostrikow und der grundlegenden buddhistischen Schrift „Dhammapada“ (Sammlung der Ausspüche Buddhas) tätig ist. Dieses Literaturdenkmal des altindischen philosophischen Denkens war die wichtigste Etappe in der Erforschung des Buddhismus in unserem Land.
Besonders hervorzuheben ist das lange als Manuskript bewahrte fundamentale wissenschaftliche Werk Jurij Roerichs „Geschichte Zentralasiens“, an dem er bereits in Indien gearbeitet hat und das er in der Heimat fertigstellen wollte. Unter dem Begriff „Zentralasien“ versteht Jurij Roerich das weite Gebiet vom Kaukasus bis zu den Großen Khingan-Bergen und vom Himalaja bis zum Altai. Diese Forschungsarbeit ist ein kultureller und historischer Überblick über die wichtigsten nationalen und kulturellen Einrichtungen auf dem riesigen Gebiet Eurasiens. Bislang hat das Internationale Roerich-Zentrum einen Band dieses einzigartigen Werks veröffentlicht.
Die Rückkehr Jurij Roerichs nach Russland und die Annahme der sowjetischen Staatsbürgerschaft waren ein mutiger und selbstloser Schritt, wenn man bedenkt, dass für eine lange Zeit die herrschenden Kreise der Sowjetunion ein verzerrtes Bild dieser bemerkenswerten Familie in der Öffentlichkeit verbreitet hatten.
Wir haben es insbesondere Jurij Roerich zu verdanken, dass wir die Möglichkeit haben, umfassende Bekanntschaft mit dem vielschichtigen künstlerischen Erbe seiner Eltern – Nikolaj und Elena Roerich – machen zu können. Der gehegte Traum der Eltern einer Rückkehr in ihre Heimat hat sich zu Lebzeiten nicht erfüllt. Dies schaffte jedoch der älteste Sohn Jurij Roerich, der die ihre guten Namen und das große Vermächtnis in die Sowjetunion zurückgebracht hat. Er brachte den ihm gehörenden Teil des Erbes der Eltern in die Heimat: mehr als 500 Gemälden seines Vaters, eine riesige Bibliothek, wertvolle Gegenstände.
Unter direkter Beteiligung Jurij Roerichs fielen nicht nur Verbote für alles, was mit dem Namen Roerich in Verbindung stand, es wurden auch viele Mythen über ihr Leben und ihre Arbeit begraben. Von Jurij Roerich erfuhren die ihn umgebenden Menschen über das Wesen und die wichtigsten Konzepte der Lehre der Lebendigen Ethik, auch Agni Yoga genannt. Er war es, der den Grundstein zur Roerich-Kulturbewegung in der UdSSR legte.
Unter Teilnahme und mit Hilfe von Jurij Roerich entstanden die ersten Ausstellungen mit Bildern von Nikolaj Roerich: zuerst in Moskau (April 1958), dann in Leningrad, Riga, Kiew, Tiflis und anderen Städten.
Zum ersten Mal stellte Jurij Roerich auf Regierungsebene die Frage, im Land ein Nicholas-Roerich-Museum aufzubauen. Hierzu stiftete er dem Russischen Museum ungefähr 350 Bilder seines Vaters unter der Bedingung, dass sie ständig ausgestellt werden. Zusätzlich schenkte er 60 Gemälde der Bildergalerie Novosibirsk. Doch zu Lebzeiten hat sich Jurij Roerichs Traum nicht erfüllen sollen. Der Staat hat auch keine ständige Ausstellung der Kunstwerke Nikolaj Roerichs im Russischen Museum aufgebaut. Die Mehrzahl der Gemälde ist bis heute keinem Betrachter gezeigt worden und verstaubt in den Archiven.
Jurij Roerich war als Mensch, als Gelehrter und als Bürger seines Landes eine herausragende Persönlichkeit. Laut Swjatoslaw Roerich war Jurij „das Muster eines wahren und inspirierten Wissenschaftlers und Denkers, ein Mann von höchster seelischer Harmonie. Er wusste genau, dass die höchste Errungenschaft des Menschen in der Selbstverbesserung seiner Persönlichkeit liegt, dass nur die ständige Arbeit an sich selbst und die Entwicklung einer Qualität, die dem Menschen innewohnt und der ein vollendetes Leben erstrebt, eine allseitige Bereicherung seiner Besonderheit schenkt und diese über das Niveau des Alltäglichen hinweghebt. „
Jurij Roerich verstirbt am 21. Mai 1960 im Alter von 58 Jahren. Seine Urne wird auf dem Friedhof Nowodewitschij in Moskau beigesetzt. Erbauer des Gedenksteines für diesen hervorragenden russischen Wissenschaftler ist Swjatoslaw Roerich.