Die Idee der Bildung eines organisierten Schutzes kultureller Schätze stammte von Nikolaj Konstantinowitsch Roerich. Sie entstand ihm gleich zu Beginn des 20. Jahrhunderts anlässlich des Studiums der alten Denkmäler seiner Heimat. Im Jahre 1903 hielt Roerich bei der Gesellschaft der russischen Architekten in St. Petersburg einen Vortrag über den kläglichen Zustand der historischen Denkmäler und über dringende Maßnahmen zu ihrem Schutz. Er schrieb: „Es ist bei uns üblich, alles auf die unerbittliche Zeit zu schieben; unerbittlich jedoch sind die Menschen, die Zeit hingegen folgt lediglich der präzisen Erfüllung all ihrer Wünsche.“ (2)
Roerich wusste sehr wohl, dass der grausamste Feind der jahrhundertealten Kultursammlungen die Kriege sind. Der Russisch-Japanische Krieg im Jahre 1904 hat den Maler veranlasst, ernsthaft über jene Bedrohung nachzudenken, die sich in der technischen Entwicklung von Kriegswaffen verbarg. Im Jahre 1914, mit Beginn des ersten Weltkrieges, wandte sich Nikolaj Roerich an die russische Regierung und die Regierungen der anderen kriegführenden Nationen mit dem Vorschlag, die Unversehrtheit der Kulturschätze durch Abschluss eines entsprechenden internationalen Abkommens zu gewährleisten. Das Bemühen Roerichs blieb jedoch ohne Antwort, und dem Maler gelang es nicht, seine humanitären Ideen umzusetzen.
Im Jahre 1929, nach Beendigung seiner mehrjährigen Asienexpedition, stellte er, diesmal jedoch breiter aufgestellt, in der Weltöffentlichkeit erneut die Frage über den Schutz des Kulturgutes der Völker bei bewaffneten Auseinandersetzungen zur Diskussion. Zusammen mit mehreren europäischen Juristen bereitete Nicholas Roerich in verschiedenen Sprachen den Entwurf eines Abkommens zum Schutz weltweiter künstlerischer und wissenschaftlicher Schätze vor, der, zusammen mit einem Aufruf des Malers, dem Pakt beizutreten, an die Regierungen und Völker aller Länder adressiert wurde. Der Text des endgültig formulierten Dokumentes enthielt in den ersten Artikeln folgende Feststellungen: „Historische Denkmäler, Museen, wissenschaftliche, künstlerische, bildende und kulturelle Institutionen gelten als neutral und genießen als solcher den Respekt und Schutz der Krieg führenden Parteien (…).(3) Neutralität, Schutz und Respekt, die den im vorhergehenden Artikel erwähnten Denkmälern und Institutionen gewährt werden sollen, werden auf allen Hoheitsgebieten, die der Souveränität eines jeden der unterzeichnenden sowie beitretenden Staaten unterliegen, anerkannt, unabhängig welchem Staat die genannten Denkmäler und Institutionen zugehören (…). (4) Institutionen, Sammlungen und Missionen, die unter den Roerich-Pakt fallen, können eine charakteristische Fahne (roter Kreis mit drei Punkten in der Mitte auf weißem Grund) aufstellen, die das Recht auf besonderen Schutz und Achtung durch die kämpfenden Staaten und der Völker der Hohen Vertragsparteien gibt.“ (5)
Die Fahne, von Roerich als „Banner des Friedens“ benannt, war in seiner Funktion der Fahne des Roten Kreuzes nachempfunden. Deshalb hat der Maler diese einfache, schöne und überzeugende Form erdacht. Das vom Maler für das Banner des Friedens vorgeschlagene symbolische Zeichen wurde von ihm selbst als Ewigkeit (der geschlossene Kreis), verwirklicht in der menschlichen Gesellschaft als Folge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (die drei vom Kreis umschlossenen Punkte) gedeutet. Roerich hatte nichts gegen andere Interpretationen und wies darauf hin, dass jede Interpretation, wenn sie aus dem Verständnis der Synthese des Lebens ausgeht, dem Sinn dieses Zeichens entspräche, einem Zeichen, dessen Herkunft auf früheste Zeiten zurückgeht. Trotz seiner uralten Herkunft wurde es nie als Kennzeichen irgendwelcher Völkerschaften oder Religionen verwendet, was von großer Wichtigkeit war. War doch zum Beispiel seinerzeit das Zeichen des Roten Kreuzes inakzeptabel für eine millionenstarke islamische Welt, in der es durch einen Halbmond ersetzt werden musste. Offensichtlich hatte Nikolaj Roerich derartige Umstände berücksichtigt, als er das Zeichen für das Banner des Friedens entwarf. Das Haager Abkommen hingegen hat noch ein anderes, vereinfachtes Zeichen gewählt: ein Schild, unten spitz zulaufend, geteilt in vier Teile blauer und weißer Farbe.
Die Idee des vom russischen Maler vorgeschlagenen Paktes stand der Idee des Roten Kreuzes an und für sich sehr nah. Im Artikel „Das Rote Kreuz der Kultur“ schrieb Roerich: „Die Menschheit hat sich an das Zeichen des Roten Kreuzes gewöhnt. Dieses wunderbare Symbol hat nicht nur Kriegszeiten durchgedrungen, sondern gab dem gesamten Leben eine Intensivierung des Begriffes der Menschlichkeit. Ein solch Unabdingbares und Notwendiges im Kleinen wie im Großen soll auch das dem Roten Kreuz ähnliche Zeichen der Kultur geben.“ (6)
Der Gedanke Roerichs – die Sache des Schutzes historische Denkmäler und Institutionen der Wissenschaft und der Aufklärung auf eine rechtliche Grundlage zu stellen – fand eine breite Unterstützung in den modernen Kreisen der Weltöffentlichkeit. Rabindranath Tagore, Sarvepalli Radhakrishnan, Romain Rolland, Bernard Shaw, Thomas Mann, Albert Einstein, H.G. Wells und andere Prominente aus Wissenschaft und Kultur begrüßten das mutige Vorhaben des russischen Malers und Gelehrten.
Im Jahre 1929 wurde in New York ein ständiges Komitee des Paktes gegründet. Von der Resonanz, die der Vorschlag Roerichs hervorgerufen hatte, zeugt seine Nominierung für den Friedensnobelpreis 1929. Die Kandidatur Roerichs wurde von der Abteilung für internationales Recht der Pariser Universität eingereicht und fand Unterstützung durch wissenschaftliche Institutionen vieler Länder. Dies diente der Verbreitung des Paktes und des Banners des Friedens, jedoch gab es keine ernsthaften Chancen auf die Verleihung des Preises an Nikolaj Roerich. Gleichzeitig mit ihm beanspruchten diesen Preis nämlich der Staatssekretär der USA, F.B. Kelloggs, und der englische Ministerpräsident R. MacDonald. Außerdem entsprachen die prosowjetische Einstellung Roerichs und seine Reise nach Moskau im Jahre 1926 nicht den politischen Interessen der westlichen Welt, was für die Verleihung des Nobelpreises eine nicht geringe Rolle spielte.
Ungeachtet der sichtbaren „unpolitischen Einstellung“ des Roerich-Paktes wurde er von vielen Politikern als ein für sie bei weitem nicht harmloses Dokument betrachtet. Der Pakt wurde zu einem mächtigen Instrument kriegsverachtender Öffentlichkeitsarbeit, der immer mehr Anhänger unter anerkannten Gelehrten, Schriftstellern, Künstlern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gewann. Seinen Kritiker entgegnete Roerich unerschütterlich, dass die Störung von Kriegshandlungen ebenfalls eines der wesentlichen Ziele des Paktes sei, und es sei seltsam, dass man dies nicht verstehen könne oder wolle.
Im Jahre 1930 wurden ständige Komitees des Roerich-Paktes in Paris und Brügge gegründet. Zu dieser Zeit wurde der Pakt auch durch das Komitee für Museumsangelegenheiten beim Völkerbund (Vorläufer der UNO) gebilligt und dem Internationalen Ausschuss für intellektuelle Zusammenarbeit zur Prüfung vorgelegt. Rabindranath Tagore schrieb hierzu an Roerich: „Ich folgte mit Argusaugen Ihrer großen humanistischen Arbeit zum Wohl aller Völker, für die Ihr Pakt des Friedens mit seinem Banner für den Schutz aller Kulturschätze ein außerordentlich wirksames Symbol sein wird. Ich freue mich aufrichtig, dass dieser Pakt vom Komitee des Völkerbunds für Museumsangelegenheiten übernommen ist, und ich fühle zutiefst, dass er weitreichende Folgen für das gegenseitige kulturelle Verständnis der Völker haben wird.“ (7)
Im Jahre 1931 wurde in Brügge unter Leitung des Ausschussmitglieds zum Schutz historischer Denkmäler, K. Tulpink, die Internationale Union des Roerich-Paktes als Zentrum der Verbreitung der Idee des Paktes und des Banners des Friedens eingerichtet. Im September dieses Jahres wurde in Brügge die erste internationale Konferenz des Paktes einberufen, an deren Arbeit sich offizielle Vertreter vieler Länder und gesellschaftliche Organisationen beteiligten. Bei der Konferenz wurde ein Programm zur offiziellen Entwicklung des Paktes erarbeitet. Auf Beschluss der Konferenz wurden ebenfalls ständige Kontakte mit dem Internationalen Komitee für Kunst und dem Büro der Konferenz zur Rüstungsbeschränkung eingerichtet. Während der Konferenz erfolgte in der Heiligblutbasilika – dem ältesten sakralen Gebäude der Stadt Brügge, die Weihung des Banners des Friedens. „Die Weihung unseres Banners sollte nicht aus Zufall in der Heiligblutbasilika erfolgen,“ – schrieb der Maler, – „sondern im Namen des ganzen Märtyrerblutes, das für die Schöne Wahrheit vergossen wurde. Wo so viele erhabene Symbole vereinigt sind, dort entsteht eine wahrhafte Festung“.
In August 1932 fand in Brügge die zweite Konferenz des Roerich-Paktes statt. Die Konferenz fasste den Beschluss, alle Ländern aufzurufen, den Pakt als internationales Dokument anzuerkennen. Auf einer Ausstellung, die die Konferenz begleitete, wurden 8.000 Fotografien architektonischer Denkmäler vorgestellt, die in erster Linie als unantastbares schutzbedürftiges Kulturerbe der Völker herausragten.
Die dritte Konferenz des Paktes wurde im November 1933 in Washington einberufen. An ihr nahmen offizielle Vertreter aus 36 Staaten teil. Die Konferenz brachte die Empfehlung über die Annahme des Paktes durch die Regierungen aller Länder hervor.
Am 15. April 1935, als Nikolaj Roerich mit seiner Expedition in den entlegenen Bezirken Nordwestchinas war, unterzeichneten die Staaten Amerikas in Washington den Roerich-Pakt, und der Präsident der USA, Franklin D. Roosevelt, sagte in einer Rundfunkansprache: „Diesen Pakt allen Ländern der Welt zur Unterschrift anbietend, streben wir danach, dass seine weltweite Anerkennung eine überlebenswichtige Grundlage für die Erhaltung der modernen Zivilisation wird. Dieses Abkommen hat eine viel tiefere Bedeutung als der Text des Dokumentes hergibt.“(8)
An diesem Tag trug Roerich in seine „Seiten eines Tagebuches“ ein: „Im Weißen Haus wird heute unter Teilnahme von Präsident Roosevelt der Pakt unterzeichnet. (…) Egal, wie viele Länder den Pakt heute unterschrieben haben, dieser Tag wird unbedingt in die Geschichte eingehen, als denkwürdige kulturelle Errungenschaft. Der Staat hat bereits seine mächtige Hand angelegt, und dadurch haben sich viele neue Wege für alle Glaubenskämpfer der Kultur geöffnet. (…) Wir werden nicht müde zu betonen, dass außer einer staatlichen Anerkennung eine aktive Unterstützung der Öffentlichkeit vonnöten ist. Kulturelle Schätze verschönern und erheben das gesamte Leben, vom Kleinen zum Großen. Darum ist die rege Sorge um sie eine Angelegenheit Aller.“ (9)
Nikolaj Roerich unterstrich insbesondere die moralisch-erzieherische Seite der Ideen des Paktes und des Banners des Friedens. Er meinte, ihre Bestimmung sei, die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit für die Probleme der Welt und des kulturellen Gefüges zu wecken. Das Risiko einer zufälligen, sinnlosen Vernichtung der Früchte wissenschaftlichen und künstlerischen Schaffens ist ständig präsent. Nicht wieder gutzumachende Fehler gegen die Kultur wurden durchaus nicht immer vom Donner der Kanonenschüsse begleitet. Roerich nannte die dilettantischen „Wiederherstellungen“ von Denkmälern aus der russischen alten Zeit am Anfang des vergangenen Jahrhunderts „leise Gemetzel“. Damals schrieb er: „Unbemerkt wird alles niedergemetzelt, was einmal notwendig war, alles, was den wirklichen Reichtum und die Pfeiler eines Volkes ausmacht. Das Gemetzel ist nicht nur im Lärm und dem Pfeifen des Massakers und der Brände unerträglich. Schlimmer ist das stille, unmerklich durchgeführte Gemetzel, das mit sich all das fortträgt, durch das die Menschen lebendig sind.“ (10)
Die Menschheit musste weitere Erfahrung durchmachen. Die zerstörerischen Folgen des Zweiten Weltkriegs, ausgelöst durch den deutschen Faschismus, sind zahlenmäßig nicht zu erfassen. Und der von Roerich vorgeschlagene Pakt zum Schutz des Kulturgutes der Völker konnte auch dieses Mal seine edle Bestimmung nicht erfüllen. Mit dem Anfang des Krieges schienen die Komitees des Paktes gar zum Schweigen gezwungen. Nikolaj Roerich jedoch verlor niemals den Glauben an den Menschen. „Zerstört durch menschlichen Irrtum und wiederaufgebaut durch menschliche Hoffnung“ (11),- sagte er über die Zerstörungen des Ersten Weltkrieges.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs nahm der Maler seine unterbrochene Arbeit zur Verbreitung des von ihm vorgeschlagenen Paktes wieder auf. Bereits im Jahre 1945 schreibt Nicholas Roerich aus Indien an die USA über die Notwendigkeit, die breite Öffentlichkeit auf die noch rauchenden Ruinen aufmerksam zu machen, damit diese tragische Lektion der Geschichte nicht umsonst erteilt wurde. Er weist darauf hin, dass es vor allem erforderlich ist, eine systematische Beteiligung der Jugend einzurichten, die sich häufig der globalen Bedeutung kulturelle Werte für die Zukunft nicht bewusst ist. „Dieser Krieg war beispiellos zerstörend und grausam. Das wilde Gespenst der Atombomben erhob sich zur Apotheose der Zerstörung.“ (12) – so schrieb der Maler, um die Komitees des Paktes zur Handlung zu bewegen.
Am 6. Dezember 1945 nahm das New Yorker Komitee Roerichs Paktes und seines Banners des Friedens offiziell seine Tätigkeit wieder auf. Im Laufe des Jahres 1946 stellte es seine unterbrochenen Kontakte wieder her, motivierte zur Sache des Paktes neue Kräfte und bereitete eine Veröffentlichung vor, in der ausführlich die Geschichte des Entstehens und des Aufstiegs des Roerich-Paktes beschrieben wurde.
Im Jahre 1946 sprach sich die All-Indische Konferenz der kulturellen Einheit für die Annahme des Roerich-Paktes aus. 1948, bereits nach dem Tod des Malers, wurde der Pakt von der Regierung des freien Indiens, unter der Präsidentschaft von Jawaharlal Nehru, gebilligt.
Im Jahre 1950 wurde, nach sorgfältiger Vorbereitung, die ganze Dokumentation zum Roerich-Pakt an den Generalsekretär der UNESCO, Doktor Jaime Torres Bodet, übergeben, um auf Basis der geleisteten Arbeit die Verbreitung des Paktes im Rahmen dieser internationalen Organisation zu fördern. Eine neue Etappe der Einführung der Idee Roerichs ins Leben erfolgte 1954 durch die Annahme der „Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten“.
«Die moralischen Prinzipien Roerichs in Bezug auf das Kulturerbe der Völker der Erde wurden Grundsätze des internationalen Rechtes“ (13), – so definierte der Volkskünstler der UdSSR, S.T. Konenkov, die Bedeutung der verabschiedeten Konvention. Der Schutz des Kulturgutes der Völker, deren Aufgaben Nicholas Roerich deutlich formulierte und der heutigen und zukünftigen Generationen stellte, ist untrennbar verbunden mit ihrer geistigen Entwicklung.
(Auszüge aus: Belikow P. F. Sammlung „N.K. Roerich. Leben und Schaffen“. 1969-1974.)
(1) Der komplette Text der Konvention ist als offizielles Dokument z.B. zu finden bei:
http://www.unesco.de/fileadmin/medien/Dokumente/Bibliothek/Schutz_von_Kulturgut_bei_bewaffneten_Konflikten.pdf
(2) N.K. Roerich. Gesammelte Werte, Buch 1. Moskau, 1914.S.72.)
(3) Artikel 1 des Roerich Paktes
(4) Artikel 2 des Roerich Paktes
(5) N.K.Roerich. Riga, 1935. S. 69.
(6) Nikolaj Roerich. Die flammende Festung. Paris, 1932. S. 382
(7) zitiert nach Art.: Ju.N. Roerich N.K.Roerich im Kampf um den Frieden//«Moskauer Komsomoloec», 17. August 1971
(8) Zitiert aus dem Buch: N.K.Roerich. S. 69
(9) Nikolaj Roerich. Das Unzerstörbare. Riga, 1936. S. 152
(10) N.K. Roerich. Gesammelte Werke, Buch 1. S. 174
(11) N.K. Roerich. Die Herrschaft des Lichtes. S. 95
(12) American-Russian Cultural Association. Annual Report. New York, 1945. S. 20
(13) Siehe: Mit dem Jahrhundert auf Augenhöhe. Moskau, 1969. Bd. II. S. 4