Das wirklich Große ist stets in der Ferne zu sehen. Im Falle des künstlerischen Erbes der russischen Philosophin und Schriftstellerin Elena Roerich trifft dies unbedingt zu. Vieles, was von dieser herausragenden Frau in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts geschaffen wurde, fand erst relativ spät Eintritt in das kulturelle und geistige Leben Russlands weckte ein tiefes und unverfälschtes Interesse bei vielen Landsleuten, die auf der Suche nach Antworten auf dringende Fragen zur Existenz sind.
Elena Roerich wurde am 12. Februar 1879 in St. Petersburg in der Familie des Architekten und Akademiemitglieds Iwan Schaposchnikow und seiner Frau Ekaterina, geborene Golenischeva-Kutusova, Großnichte eines großen Feldmarschalls, geboren. Mütterlicherseits war sie eine entfernte Verwandte des berühmten russischen Komponisten Mussorgsky.
Seit früher Kindheit zeigt sie außergewöhnliche Fähigkeiten, im Alter von sieben Jahren kann sie schon in drei Sprachen lesen und schreiben. Bereits in jungen Jahren hat sie lebhaftes Interesse an Literatur und Philosophie. Nach dem Abitur am Marien-Gymnasium und Erhalt einer musikalischen Ausbildung erwartet sie eine glänzende Karriere als Pianistin. Aber das Leben hat andere Pläne mit ihr.
Im Jahr 1899 trifft Elena Schaposchnikowa auf dem Anwesen ihrer Tante, Fürstin Elena Putjatina, mit dem jungen Künstler Nikolaj Roerich zusammen, der nicht nur ihr Ehemann sondern auch Gleichgesinnter werden sollte. Die Gemeinsamkeit in ihren Ansichten, ihre Seelenverwandtschaft und ihre tiefen gegenseitigen Gefühle machten diese Verbindung außergewöhnlich stark. „Gemeinsam haben wir alle Hürden gemeistert, schreibt Nikolaj Roerich in den letzen Lebensjahren über seine Ehe, „und die Hindernisse verwandelten sich in Möglichkeiten.“ Er widmete seine Bücher: „Für Elena, meine Frau, Vertraute, Weggefährtin und Inspiratorin.“ „Vertraute“ – dieses Wort beschreibt sehr genau den Geist und den Charakter von Elena. Viele Gemälde von Nikolaj Roerich sind das Ergebnis ihrer gemeinsamen Arbeit, ihrer „Zusammen-Arbeit“, in der Elena die inspirierende Persönlichkeit war. So schreibt Nikolaj Roerich: „Wir haben gemeinsam geschaffen, und es heißt nicht umsonst, dass Werke zwei Namen tragen sollten – einen männlichen und einen weiblichen.“
In diesem „wir haben gemeinsam geschaffen“ steckt ein gewaltiger Sinn. Viele Bilder des Künstlers, die Ideen der Lebendigen Ethik darstellen, sind nach Elenas Gedanken und inspiriert von ihren Visionen entstanden.
Im August 1902 wird ihr Sohn Jurij, zukünftiger Gelehrter und Orientalist von Weltruf, geboren. Im Oktober 1904 kommt Swjatoslaw zur Welt, der später Künstler, Denker und gesellschaftliche Persönlichkeit werden soll.
Elena Roerich war Herz, Mentorin und tragende Säule der Familie Roerich. Nikolaj Roerich, Yuri und Swjatoslaw schätzten Elenas Rolle als strahlendes Genie der Familie außerordentlich. In seinen Memoiren merkt Swjatoslaw Roerich an: „Für uns und für alle, die ihr nahe standen, war diese geistige Gemeinschaft wie eine lebendige Bestätigung der höchsten Wahrhaftigkeit einer urewigen Wahrheit. Ihr Leben leuchtete wie ein lebendiges Licht, das mit seiner Beispielhaftigkeit die Existenz einer wunderbaren Welt bekräftigt, deren Erkennung die Menschheit zu neuen Leistungen und neuen Entdeckungen führt.“
Nikolaj Roerich nennt Elena in seinen Werken „Die Führende“. Aber sie war eine erstaunlich bescheidene Frau. Sie trat in das Leben eines bedeutenden Künstlers, aber sie hielt sich stets im Hintergrund. Die meisten ihrer Werke sind unter Pseudonymen veröffentlicht. „<…> Lassen Sie mich vom Sockel heruntersteigen, den Sie mit Ihrem wunderbaren und liebenden Herzen errichtet haben <…> Ich liebe die Einfachheit in allem, jedweden Prunk und Feierlichkeit kann ich körperlich nicht ertragen. Ich mag nicht lehren, sondern nur Wissen vermitteln“- schrieb sie in einem Brief an einen Freund.
Abgeschnitten von der Heimat durch die Ereignisse im Jahr 1917, reisen die Roerichs nach einem Aufenthalt in Skandinavien nach England. Hier in London, schreibt Elena im Jahr 1920 die ersten Zeilen der Lebendigen Ethik, einem neuen philosophischen System, das ein modernes ganzheitliches Konzept des realen Universums darstellt. Die Bücher der Lebendigen Ethik verfasst Elena Roerich in enger Zusammenarbeit mit einer Gruppe anonymer Philosophen, die, der spirituellen Tradition Indiens folgend, Mahatmas, Große Seelen, Rishi oder Lehrer genannt werden.
Im Herbst 1920 reist Elena Roerich zusammen mit ihrem Mann und ihren Kindern nach New York, wo Nikolaj Roerich Ausstellungen in Städten der USA geplant hat.
In Amerika übt eine kleine Gruppe von Gefährten unter der Führung von Nikolaj Roerich und direkter Mitarbeit von Elena Roerich eine breit angelegte kulturelle und aufklärerische Tätigkeit aus. Die Ergebnisse sind verblüffend: Das Nicholas-Roerich-Museum, das „Master Institute of United Arts“, das Internationale Kunstzentrum „Corona Mundi“. Diese von Nikolaj und Elena Roerich ins Leben gerufenen Einrichtungen werden zu großen kulturellen Zentren, deren Einfluss weit über das Land hinausgeht, sie werden international. Zahlreiche Gesellschaften, Kunstvereine und Bildungseinrichtungen, die unter der Schirmherrschaft dieser Organisationen weltweit tätig sind, vereinigen unter der gemeinsamen Kuppel der Kultur nicht nur kreative Menschen, sondern auch all diejenigen, die bestrebt sind, humanistische Ideale und der Verbesserung des Lebens zu schaffen. „Es ist eine Freude zu sehen, wie sich an Tagen der Zerstörung helle Seelen im Namen der Kultur versammeln und versuchen, das Feuer zu erhalten, den Suchenden nach einem Ausweg aus einer bewusst geschaffenen Sackgasse, die auch materielle Armut mit sich bringt, die Freude einer kreativen Schöpfung und einer Erweiterung des Bewusstseins zu geben“, schreibt Elena.
Von 1924 bis 1928 nimmt Elena an der gewaltigen Expedition teil, die Nikolaj Roerich durch schwer zugängliche und wenig erforschte Regionen Zentralasiens organisiert hat. Sie ist als einzige Frau dabei und hält die gesamte schwierige Route durch. Sie teilt mit den anderen Expeditionsteilnehmern alle Strapazen des Weges und tödliche Gefahren. „Hilfe zu bringen, zu fördern, zu erklären, keine Mühe scheuen – zu allem ist Elena bereit … Man kann sich nur wundern, woher sie die Kräfte nahm, besonders wenn man an ihr schwaches Herz denkt, <…> Elena hat mit uns auf dem Pferd ganz Asien durchquert – schreibt Nikolaj Roerich – sie fror und hungerte in Tibet, aber sie war stets die Erste, die der gesamten Karawane ein Beispiel an Kraft gab. Und je größer die Gefahr, desto kräftiger, bereiter und fröhlicher war sie. Selbst bei einem Pulsschlag von 140 war sie bemüht, sich persönlich in die Ordnung der Karawane und die Regelung sämtlicher Reisebelange einzubringen. Niemand sah jemals Entmutigung oder Verzweiflung, obwohl es in der Tat eine Menge Gründe unterschiedlicher Art dazu gab.“
Im Jahr 1926 wird in der Mongolei (in Ulan Bator), wo sich zu dieser Zeit die Expedition befindet, Elena Roerichs Manuskript „Grundlagen des Buddhismus“ veröffentlicht. In diesem Buch werden die grundlegenden philosophischen Ideen der Lehren Buddhas wie Reinkarnation, das Gesetz des Karma und Nirwana behandelt, es werden aber auch die tiefe moralische Grundlage dieser Lehre besprochen, die eines der wesentlichen Vorurteile des Denkens über den Menschen im Buddhismus als wertlose, von Gott verlassene Existenz widerlegt.
Im Jahre 1927 erblickt am selben Ort, in der Mongolei, eines der Bücher der Lebendigen Ethik das Licht der Erde: „Gemeinschaft“.
1928, nach der Rückkehr von der zentralasiatischen Expedition, lassen sich die Roerichs im alten malerischen Kullu-Tal im westlichen Himalaya nieder. Hier gründen sie das Institut für Himalaya-Studien „Urusvati“ – „Das Leuchten des Morgenstern“. Roerich wird zum Ehren-Vizepräsident dieser einzigartigen wissenschaftlichen Einrichtung gewählt und übernimmt eine aktive Rolle bei der Organisation ihrer Arbeit. Hier, in Kullu, widmet sich Elena wieder der Hauptarbeit ihres Lebens – den Büchern der Lebendigen Ethik. Diese Arbeit führt sie bis zu ihrem Tod fort. Die Lebendige Ethik als Philosophie der kosmischen Wirklichkeit enthält ein einzigartiges System von Wissen basierend auf gemeinsamen und individuellen Gesetzen des Kosmos, deren untrennbarer Bestandteil die Erde und die Menschheit sind. Dieses System des Wissens der Lebendigen Ethik entspricht einer neuen evolutionären Spirale der Menschheitsentwicklung, wenn das wissenschaftliche Denken ersetzt wird durch ein kosmisches Weltbild. Der Name der Philosophie selbst – Lebendige Ethik – verbindet Mensch und Kosmos zu einem vergeistigten System.
Im Jahre 1929 werden in Paris unter dem Pseudonym „Jean Saint-Hilaire“ Elena Roerichs „Kryptogramme des Ostens“ herausgegeben. Diese Werke (oder Apokryphen, d.h. Texte, die nicht in den kanonischen Schriften enthalten sind) handeln von den legendären und historischen Ereignissen längst vergangener Tage und erzählen über die unbekannten Seiten des Lebens der Großen Lehrer der Menschheit – Buddha, Christus, Apollonius von Tyana, Sergius Radoneschskij. Dem Bild von Sergius, Wächter und Beschützer der russischen Erde, widmet Elena Roerich ein separates Werk, in dem die perfekte Kenntnis der Geschichte und Theologie Vereinigung findet mit einer tiefen und ergreifenden Liebe zu diesem Glaubenskämpfer.
Eine brillante Beherrschung von Fremdsprachen und eine tiefe Kenntnis der Philosophie gestattet Elena Roerich die Übersetzung der „Geheimlehre“ – eine herausragende Arbeit der Gründerin der Theosophischen Gesellschaft, Elena Petrowna Blavatskij, sowie ausgewählte Mahatma-Briefe in die russische Sprache und führte so russische Leser in diese wichtigen theosophischen Werke ein.
Einen besonderen Platz im Erbe von Elena Roerich nehmen ihre Briefe an die Schüler der Lebendigen Ethik ein. Wenn sich die Lehre der Lebendigen Ethik von Elena in Zusammenarbeit mit den Lehrern entwickelte, so sind die „Briefe“ ist ein brillantes Beispiel ihrer individuellen Kreativität. Mit der erstaunlichen Gabe eines Aufklärers konnte sie in einfacher und leicht verständlicher Sprache ihren Briefpartnern die schwierigsten Fragen des Seins erklären. So auch über die Stellung und Rolle des Menschen im Universum, über die Gesetzmäßigkeiten des Zusammenspiels von Mensch und Kosmos, über die Interdependenz von Geist und Materie.
Sie gab lebensnahe und praktische Ratschläge. Die Lektüre dieser Briefe fasziniert nicht nur durch ihre profunde Kenntnis der antiken philosophischen Lehren und der Werke der fernöstlichen und europäischen Denker, sondern auch durch tiefgreifendes und klares Verständnis der Grundlagen des Seins. Daher sind „Die Briefe“ Elena Roerichs ein notwendiger und untrennbarer Bestandteil der Lebendigen Ethik.
Der Doppelband „Briefe von Elena Roerich“ wurde im Jahre 1940 in Riga veröffentlicht und sind seitdem mehrfach nachgedruckt worden. Zurzeit ist die komplette Sammlung der Briefe von Elena Roerich (Bd. I – IX) von der Manuskriptabteilung des Internationalen Roerich-Zentrums herausgegeben. Dort sind einige noch nie zuvor veröffentlichte Briefwechsel enthalten, die eine vollkommen neues Bild auf die Beteiligung dieser herausragenden Frau an der Bewegung des Banners des Friedens, mit dem der Roerich-Pakt verbunden ist, ermöglicht. Man kann mit Überzeugung sagen, dass ohne Elena Roerich der Pakt nicht zustande gekommen wäre. Sie war es, die während der mandschurischen Expedition von Nikolaj Roerich (1934 – 1935) die gesamte geschäftliche Korrespondenz mit den internationalen Kultur- und Bildungseinrichtungen geführt und deren Tätigkeiten koordiniert hat. Das Ergebnis ihrer selbstlosen Arbeit zeigte sich in der Unterzeichnung des Roerich-Paktes am 15. April 1935 durch die Oberhäupter von 22 Staaten, einschließlich der USA.
Im Januar 1948, kurz nach dem Tod ihres Mannes, verlässt Elena zusammen mit Yuri Roerich und das Kullu-Tal und lässt sich, nach einem kurzen Aufenthalt in Delhi und Khandala, in dem kleinen Kurort Kalimpong an den Hängen des östlichen Himalayas nieder.
Elena Roerich wollte immer nach Russland zurückkehren. Ihr Rückkehrersuchen wurde jedoch von der sowjetischen Botschaft nicht beantwortet. Das gleiche Schicksal widerfuhr den Briefen und Petitionen an die Regierung. Auch die Akademie der Bildenden Künste konnte nicht helfen. Aber trotz aller Ablehnungen hat Elena nie die Hoffnung auf Rückkehr aufgegeben, hat immer gehofft, ihre gesammelten Schätze in das Land der Besten – so nannte sie Russland – zu bringen und dort, und seien es nur ein paar Jahre, arbeiten zu können. Bis zu ihren letzen Tagen hat die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihrer Heimat gehalten: „Es kann nicht sein, dass ich nicht komme. Ich muss kommen!“, wiederholte sie bis kurz vor ihrem Ableben. Aber diese Rückkehr fand nicht statt. Das Land weigerte sich, seine große Tochter einreisen zu lassen. Am 5. Oktober 1955 scheidet Elena Roerich aus dem Leben.
Je mehr Zeit vergeht und je tiefer wir in das geistige und philosophische Erbe der großen russischen Philosophin Elena Roerich eintauchen, desto deutlicher wird die Größe ihres Schaffens für die Evolution des Planeten und der gesamten Menschheit.