Gastbeitrag von Yuri Samodurov, Rechtschützer, ehem. Direktor des nichtstaatlichen Andrej-Sacharov-Zentrums und seines Museums
Es ist noch ein langer Weg, bis wir aus der Quarantäne herauskommen und zur Normalität zurückkehren, aber eines der Elemente des normalen Lebens, zu dem wir alle zurückkehren wollen, ist für mich der Kampf um das nichtstaatliche Roerich-Museum, und ich möchte meine Gedanken zu diesem Thema mit Ihnen teilen.
Ich glaube, dass das Motiv für die Zerstörung des nichtstaatlichen Roerich-Museums und seiner Ausstellung letztlich ideologischer Natur ist.
Nach der Oktoberrevolution schlossen und zerstörten die sowjetischen Behörden alle nichtstaatlichen Museen und sonstigen nichtstaatlichen Kultureinrichtungen (Bibliotheken, Theater, Bildungseinrichtungen), da Kunst und Kultur „dem Volk gehören sollten“. Wenige Jahre später wurden aus ideologischen Gründen der „zweiten Ordnung“ eine Vielzahl von Werken französischer und deutscher Impressionisten etc. in den Sammlungen von Schtschukin, Morosow usw. aus den staatlichen sowjetischen Museen verbannt und verschwanden für Jahrzehnte als „dekadente Werke“ in den Archiven.
Mit der Ankunft Jelzins änderte sich die Situation.
Infolge der Perestroika und nach Gorbatschow sind in unserem Land eine ganze Reihe privater, kleiner geschichtlicher Museen, Gedenkstätten und Heimatmuseen entstanden und existieren noch heute. Erheblich später entstanden auch mehrere recht große private Kunstmuseen. Beispiele hierfür sind das private Museum für russische Ikonen (eröffnet 2006), das Institut (Museum) für russische realistische Kunst (eröffnet 2011), Museum AZ (Anatolij- Zverev-Museum, eröffnet 2015), das Museum für russischen Impressionismus (eröffnet 2016).
Aber das erste nichtstaatliche kunsthistorische Museum des Landes wurde in den ersten Jahren nach der Perestroika, im Jahr 1993, eröffnet. Es handelte sich um das nichtstaatliche Nikolaj-Roerich-Museum, das vom Internationalen Roerich-Zentrum in Moskau, im ehemaligen Lopuchin-Gut in der Nähe des Staatlichen Puschkin-Kunstmuseums, eingerichtet wurde. Das nichtstaatliche Nikolaj-Roerich-Museum war von 1993 bis 2017 erfolgreich in Betrieb. Es wurde vom „spätputinschen“ Kulturminister Medinskij zerstört.
Mit anderen Worten, vieles von dem, was in der UdSSR auf dem Gebiet der Politik, Kultur und Religion ideologisch inakzeptabel war, wurde in der Ära Gorbatschow und Jelzin möglich. Und vieles von dem, was in der Ära Jelzin ideologisch erlaubt war, ist unter Putin erneut inakzeptabel geworden. Ich spreche darüber, weil es gerade die Verengung des Rahmens von ideologisch Akzeptablem in der späten Putin-Ära war, die meiner Meinung nach das tragische Schicksal des nichtstaatlichen Nikolaj-Roerich-Museums bestimmte.
Die Vollständigkeit des Erbes der Familie Roerich in sowjetischen und russischen Museen war immer in Frage gestellt.
Der Name und die Gemälde des Künstlers Nikolaj Roerich (1874-1947) waren in unserem Land schon immer bekannt und hoch geschätzt – sowohl in Sowjetzeiten als auch heute. Einige seiner Gemälde, nicht nur zu Themen der russischen Geschichte, konnte ich seit meiner Kindheit (ich bin 1951 geboren) bis heute in der Tretjakow-Galerie sehen, und ein paar Dutzend Bilder seiner „Himalaya-Serie“, die ich seit meiner Jugend sehr liebte, besuchte ich viele Male im Museum für Orientalische Kunst, als es noch in einer geschlossenen Kirche in der Obucha-Straße untergebracht war.
In der UdSSR wurde das künstlerische Erbe von Nikolaj Roerich in der Tretjakow-Galerie gezeigt und präsentiert als a) patriotisch – dies sind seine Gemälde zu Themen der russischen Geschichte sowie der altrussischen Architektur, und als b) geheimnisvoll poetisch, was den Betrachtern die Möglichkeit bietet, sich an der Entschlüsselung der Geheimnisse des Ostens zu erfreuen.
So wird die „zweite“ Richtung in Roerichs Werk in einer Broschüre der Tretjakow-Galerie von 1989 beschrieben: „N. Roerich. Aus der Sammlung der Staatlichen Tretjakow-Galerie“, Autor und Kompilator A.M. Lukaschow (Moskau. Fine Art, 1989, Auflage 100.000): „Der Künstler lässt den Betrachter gespannt rätseln, durch die Bildnamen nach etwas im Bild suchen und taucht ihn allmählich in die Welt neuer, unbekannter Bilder ein (‚Maitreya‘, ‚Geser‘, ‚Shambala‘, ‚Chengrazi‘, ‚Guga Chohan‘ usw.). Roerich malt chiffrierte Bilder seltsamer, geheimnisvoller Begriffe und Symbole. Sie enthalten die Antworten des Künstlers auf die Aufgaben und Ziele, die er im Osten verfolgte, oder Fragen, die an die Zukunft gerichtet sind“.
Zwei weitere Beispiele für die Beziehung in der Sowjetzeit zu den „Geheimnissen des Ostens“ in Roerichs Gemälden:
Im Jahr 1970 präsentierte L. Yuferova in der Einleitung zu dem großartigen Album „Nikolaj Roerich“ (eine Mappe mit 42 Reproduktionen von Roerichs Gemälden, mit Anmerkungen von A.Lukaschow, Moskau. Goznak, 1970, Auflage 25.000) die „Himalaya-Serie“ von Roerichs Gemälden in einem ideologisch „sterilen“ Kontext: „Die Gemälde der Himalaya-Serie von Nikolaj Roerich sind ein großer Beitrag des ältesten russischen Künstlers zur Geschichte der russischen Kunst, sie sind eine seiner hellsten und besten Seiten. Es handelt sich um großartige realistische Gemälde, die vom Glauben an das humanistische Lichtideal inspiriert sind und in der Tradition der russischen demokratischen Malereischule stehen, die in der Person von Nikolaj Roerich die schwierigen Prüfungen der Epoche der Krise in der Malerei und der langen Jahre ihrer erzwungenen Trennung von Russland durchlief“.
Im Jahre 1978 erschien im Verlag „Fine Art“ das Buch „Nikolaj Roerich. Leben und Schaffen. Artikelsammlung“ (Moskau, Auflage 30.000, 64 Abbildungen, davon 40 in Farbe). Das Buch enthält Artikel von 22 Autoren. Wie die oben erwähnten Ausgaben besitze ich auch diese Sammlung. Vollständig habe ich das Buch nicht gelesen, aber in allen Artikeln, die ich jetzt zu einer für mich interessanten Frage durchgesehen habe, steht kein einziges Wort darüber, was erstmals die Ausstellung des Nikolaj-Roerich-Museum zu sehen und zu lernen ermöglichte. Derartiges kann man nicht im New Yorker Roerich-Museum sehen, das ich vor zwei Jahren besuchte.
Eine gewagte Behauptung
Ich denke, dass aus der Sicht des russischen Kulturministeriums unter der Leitung von Medinskij, der Direktion des Staatlichen Museums für Orientalische Kunst und einer großen Zahl weiterer russischer Museumsleute, die in der Union der Russischen Museen vereint sind (der Vorsitzende der Union ist Michail Piotrowskij), das Erbe von Nikolaj Roerich in den Ausstellungen und Publikationen der heimischen Museen so wie in der Sowjetzeit ohne Bezug auf das ethisch-philosophische System der Lebendigen Ethik (Agni-Yoga) gezeigt werden sollte, das in den 1920er und 1930er Jahren von Elena Roerich in Zusammenarbeit mit spirituellen Lehrern des Ostens begründet wurde. Über die Tatsache, dass die Lebendige Ethik (Agni Yoga) Auswirkungen auf Bildsprache, Ästhetik und Sujets, also auf den visuellen und spirituellen Inhalt einer großen Zahl von Gemälden Roerichs mit „neuen unbekannten Wesen“ sowie auf die Spiritualität der Gemälde der Himalaya-Serie hatte, haben russische Kunsthistoriker weder damals noch heute gesprochen, aber sie streiten sie auch nicht ab. Dieses Merkmal der Situation ist eben diese riskante Behauptung, die mir jedoch richtig erscheint.
Ich bin kein Kunstwissenschaftler, sondern lediglich ein Bewunderer und Liebhaber der Gemälde von Nikolaj Roerich. Ich mag Roerichs Gemälde sowohl aus der frühen als auch aus der „östlichen Periode“ seines Schaffens mit „neuen unbekannten Wesen“, und ich bin sehr angetan von den Gemälden seiner Himalaya-Serie. Ich weiß nichts über die Lehren der Lebendigen Ethik (Agni-Yoga), über Shambhala, Maitreya, die Großen Mahatmahs, oder, um genauer zu sein, ich weiß davon nur vom Hörensagen, und habe mich niemals ernsthaft für Bücher der Lebendigen Ethik, die von Elena Roerich geschaffen und vom nichtstaatlichen Roerich-Museum oder anderen Verlagen herausgegeben wurden, interessiert. In meiner Hausbibliothek gibt es zum Beispiel das Buch „Nikolaj und Elena Roerich“. Agni Yoga. Gutes Auge. Legenden, Sprichwörter, Märchen“, Verlag „AST“, 2019, Auflage 2.000. Ich habe es einmal geöffnet, aber „es lief nicht“.
Die großartige Museumsexposition des nichtstaatlichen Roerich-Museums hat mir (ich habe sie mir mehrfach angesehen) und, wie ich glaube, einer großen Zahl von Menschen sehr gut gefallen. Sie war hell, sehr informativ und äußerst interessant. Die Exposition umfasste nicht nur viele Gemälde der „Himalaya-Serie“ von Nikolaj Roerich, sondern auch viel Material über die Reisen der Familie Roerich in den Altai, die Mongolei, nach Tibet. Zu sehen waren außerdem persönliche Gegenstände und Dokumente der Familienmitglieder, Karten, Fotografien, Expeditionsausrüstung, ein riesiges, mehrere Quadratmeter großes Reliefmodell des eurasischen Kontinents mit der Route von Roerichs Expeditionen, seltene Bücher, tibetische Schriften, buddhistische Relikte usw. Zudem bemerkte ich in diesem sehr interessanten und reichhaltigen Museum unwillkürlich etwas, das ich noch nie zuvor gesehen hatte und dem ich noch nirgends zuvor begegnet war: einen „Hügel“ mit skulpturalen Büsten von „Boten der kosmischen Evolution“, unter denen sich Echnaton, Sokrates, Buddha, Christus, Solowjew, Einstein, Ziolkowski, Vernadskij und weitere Persönlichkeiten befanden (die Pyramide mit den Büsten stand in einem der ersten Säle). I einem der letzten Säle entdeckte ich eine Ausstellung zu Ehren der spirituellen Gurus des Ostens (der Mahatmas) mit ihren Porträts und wunderschönen beleuchteten Mineralkristallen, die eine ungewöhnliche Atmosphäre schaffen.
Die Popularisierung der Lebendigen Ethik in der russischen Gesellschaft und im nichtstaatlichen Nikolaj-Roerich-Museum, die Veröffentlichung von Büchern über die Lebendige Ethik durch das Internationale Roerich-Zentrum, die Bilder der Mahatmas und einiger „Boten der kosmischen Evolution“ in seiner Ausstellung – möchten Sie so etwas? Und Sie möchten, dass das Kulturministerium dem zustimmt? Das wäre fast so, als ob die Kreml-Administration und die Führung der Russisch-Orthodoxen Kirche die Auftritte amerikanischer Religionsprediger in Russland mit Gelassenheit betrachten oder nicht auf die Existenz von Gemeinschaften der Zeugen Jehovas achten würden (die Organisation ist in Russland verboten). Ja, wir wissen, dass sowohl die Reden amerikanischer Missionare als auch die freie, legale Existenz von Gemeinschaften der Zeugen Jehovas (einer heute in Russland verbotenen Organisation) in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren in Russland erlaubt waren, und dass das nichtstaatliche Roerich-Museum 1993 legal eröffnet und bis 2017 erfolgreich betrieben wurde, aber jetzt kann diese Ideologie nicht zugelassen werden! – Ungefähr so stelle ich mir einen derartigen Dialog mit einem der gegenwärtigen stellvertretenden Minister oder dem Kulturminister der Russischen Föderation vor (würde ich denn von einem von ihnen empfangen werden).
Wie lautet die Schlussfolgerung?
Die Kulturminister Putins, angefangen bei Medinskij, gestatten nichtstaatlichen Museen die Existenz und „tolerieren sie“, solange die Ausstellungen dieser Museen nicht über die von der Kreml-Administration erlaubte Ideologie und Politik hinausgehen. Und dieser Rahmen wird, wie wir sehen, immer enger. Deshalb ist es inakzeptabel für das Kulturministerium der Russischen Föderation, für die Leitung des Staatlichen Museums für Orientalische Kunst, für den Direktor der Eremitage Michail Piotrowski (der die Zerstörung des Öffentlichen Nikolaj-Roerich-Museums unterstützte) und für die Direktorin des Staatlichen Museums für Schöne Künste (Puschkin-Museum) Marina Loschak, in deren Händen heute die vom Internationalen Roerich-Zentrum mit privaten Spenden restaurierten Gebäude des Lopuchin-Guts sind. Der Direktion des Staatlichen Museums für Orientalische Kunst und anschließend der Direktorin des Puschkin-Museums Marina Loshak kam es nicht in den Sinn, dieses Gebäude als fremdes Eigentum aufzugeben.
Ich denke, dass bei den Motiven für die Zerstörung der Exposition des nichtstaatlichen Roerich-Museums durch den Staat, neben dem Wunsch des Kulturministeriums und des Museums für Orientalische Kunst, einen riesigen und sehr wertvollen Teil des künstlerischen Erbes und des Archivs der Familie Roerich „für lau“ zu bekommen, wahrscheinlich (obwohl darüber weder geschrieben noch gesprochen wird) die ideologische Ablehnung einer der wichtigsten ideologischen Komponenten des nichtstaatlichen Nikolaj-Roerich-Museums durch das Kulturministerium und der Russischen Orthodoxen Kirche eine bedeutende Rolle spielt, nämlich die Popularisierung des spirituellen Systems des Agni-Yoga (Lebendige Ethik), von dem die Beamten zwar gehört haben, von dem sie aber nicht mehr wissen als ich. Die Führung der Russisch-Orthodoxen Kirche hatte offenbar auch über die Beamten des Kulturministeriums Hand angelegt an die Zerstörung des nach Nikolaj Roerich benannten öffentlichen Museums, weil das Museum in seiner Ausstellung und in seinen Publikationen die Verbindung der Roerichs mit den Lehren der Lebendigen Ethik (Agni-Yoga) nicht verbarg, sondern offen zeigte und popularisierte. In der Russisch-Orthodoxen Kirche jedoch wird Agni-Yoga offensichtlich als etwas angesehen, das dem Heidentum und dem Satanismus nahesteht, zumindest schrieb das so Diakon Andrej Kurajew in seinem zweibändigen Werk „Satanismus für Intellektuelle“.
Nichtsdestotrotz kämpft die Leitung des Internationalen Roerich-Zentrums mit Unterstützung von Teilnehmern der Roerich-Gesellschaften und einer nicht so großen Zahl von Personen, die nicht mit der Roerich-Bewegung in Verbindung stehen, weiter für die Wiederherstellung des nichtstaatlichen Nikolaj-Roerich-Museums und für die museale Ausstellung und Popularisierung des gesamten Lebens und Erbes der Familie Roerich, einschließlich ihrer Weltanschauung und ihrer philosophischen und ethischen Ansichten, sowie für die Ausstellung von Materialien, die von ihrem tiefen Interesse an der östlichen Philosophie, an der Lebendigen Ethik, an den Mahatmas (für mich spielt es keine Rolle, ob es sich um Mythen handelt oder nicht) zeugen, deren Anweisungen, so glaubt man, von Elena Roerich aufgezeichnet und von Nikolaj Roerich befolgt wurden.
Auf Seiten des Internationalen Roerich-Zentrums sind das RECHT AUF WAHRHEIT und das RECHT AUF GEWISSENSFREIHEIT, aber auch das RECHT AUF EIGENTUM gemäß Auftrag von Swjatoslaw Roerich an einem bedeutenden Teil des künstlerischen Erbes der Familie Roerich, ebenso wie am Archiv und den Erinnerungsstücken der Familie Roerich, die Swjatoslaw Roerich dem Internationalen Roerich-Zentrum unter der Bedingung übergab, dass sie in Russland in einem ÖFFENTLICHEN und nicht in einem staatlichen Museum aufbewahrt und präsentiert werden. Die Moskauer Behörden zeigten und offerierten Swjatoslaw Roerich das ehemalige Lopuchin-Gut als Standort für die Errichtung des nichtstaatlichen Roerich-Museums, das er auch auswählte. Michail Gorbatschow und anschließend Boris Jelzin erfüllten das Versprechen gegenüber Swjatoslaw Roerich, es dem Internationalen Roerich-Zentrum zu übergeben.
Ich wünsche dem Internationalen Roerich-Zentrum aufrichtig Erfolg und bemühe mich, es zu unterstützen!
Link zum russischen Original des Textes:
https://echo.msk.ru/blog/samodurov/2637477-echo/